Marc Kräutle
11.03.2019
Work 4.0 , Transformation , Operations Excellence ,

Ich bin ja noch da!


Warum Unternehmen so dringend eine digitale Kultur benötigen!

In den Industrieunternehmen, die ich besuche, sehe ich oft zwei entgegengesetzte Entwicklungen. Geschäftsführung und oberste Führungsebene wissen inzwischen, dass Digitalisierung ein wichtiges Thema ist und dass sie sich damit beschäftigen sollten. Bei aller Unsicherheit ist das Thema dort positiv besetzt. Ganz anders sieht es auf der Mitarbeiterseite aus. Es bedeutet die Auseinandersetzung mit Technologien, denen sich viele über 50jährige nicht mehr gewachsen fühlen. Es bedeutet, sich mit neuen Arbeitsweisen vertraut zu machen, die von jedem Mitarbeiter und jeder Mitarbeiterin im Unternehmen ein verändertes Selbstverständnis erfordern. Und es bedeutet eine große Unsicherheit bei der Einschätzung, wo man denn mit dem Lernen anfangen soll und was alles dazu gehören könnte.

Was wir hier sehen, ist zunächst ein Wahrnehmungsproblem. Denn für die Führungsebene geht es erst einmal darum herauszufinden, wo potenzielle Anwendungsgebiete liegen, welche Mehrwerte sich durch Digitalisierung ergeben können, ob Gefahren für die das aktuelle Geschäftsmodell drohen, wann man mit einem Return on Investment rechnen kann, welche Investitionssummen im Raum stehen und wie man im Management Know-how aufbaut, um diese Investitionen abzusichern. Die wirkliche Auseinandersetzung mit einer neuen, digitalen Unternehmenskultur steht entsprechend sehr weit hinten auf der Liste der Themen, mit denen man sich beschäftigen kann und möchte.

Drei deutliche Fehleinschätzungen

Das zeigen auch die Ergebnisse unserer Umfrage, die ich bereits in meinen letzten Beiträgen zitiert habe. Rund 70 Prozent der befragten Werke haben sich nämlich bisher kaum oder gar nicht mit dem Thema 'digitale Kultur' auseinandergesetzt. 64 Prozent haben bei diesem wichtigen Thema nicht einmal ihre Belegschaft eingebunden. Und dass, obwohl 80 Prozent davon ausgehen, dass sich die Arbeitskultur wesentlich ändern wird. Wenn ich das mit dem vergleiche, was ich in Unternehmen sehe, die sich auf den Weg der Digitalisierung begeben haben, kann ich nur sagen: Hier besteht dringender Handlungsbedarf.

Was ändert sich? Zunächst entstehen völlig neue Möglichkeiten, Daten zu erheben, auszuwerten und miteinander in Verbindung zu bringen. Das bedeutet: Wir werden in den nächsten Jahren zunehmend unsere Prozesse effizienter machen und verändern, weil wir genauer sehen, wo wir optimieren können. Für die Mitarbeiter bedeutet das: Sie müssen lernen, wie man mit Datenstrukturen und Dateninterpretation umgeht und was für Chancen und Risiken sich daraus ergeben.

Wir werden Abhängigkeiten im Produktionsprozess entdecken, die uns ermöglichen, die Qualität unserer Produkte zu optimieren. Was bedeutet das konkret? Beschaffungs-, Vertriebs-, Produktions-, Planungs-, Qualitätssicherungs-, Logistik-, Lager- und alle möglichen anderen Prozesse werden stärker miteinander verzahnt, automatisiert, digitalisiert. Deshalb ist es wesentlich, dass die Mitarbeiter ein stärkeres Prozessverständnis entwickeln - weg von einer Abteilungsdenke oder weg vom Silo-Denken. So versetzt das Unternehmen sie in die Lage, diese Verzahnung besser gestalten und richtig handeln und eingreifen zu können. Hinzu kommt: Immer mehr Mitarbeiter werden durch intelligente Systeme Unterstützung erhalten. Sie werden immer mehr Maschinen und Computer steuern, statt selbst Hand anzulegen. In Kollaboration mit (und in Abhängigkeit von) IT-Systemen arbeiten, die systematisieren, kontrollieren, organisieren und auch ausführen. Ein Problem, auf das wir bisher keine Antwort haben, bleibt allerdings: Da wir am Arbeitsmarkt einen Facharbeitermangel haben, werden wir für viele der neuen Aufgaben nicht schnell genug entsprechend ausgebildete Mitarbeiter finden. Der Fight for Talents hat bereits begonnen. Wer sich als Arbeitgeber hier nicht schnell und nicht attraktiv genug positioniert, läuft Gefahr, bei der Digitalisierung vom Wettbewerb überholt zu werden. Wenn das stimmt, dann bedeutet das für die Mitarbeiter vor allem die ständige Auseinandersetzung mit neuen Technologien, neuen Formen der Zusammenarbeit und der Unternehmensorganisation. Dies entspricht der Wahrnehmung der von uns befragten Unternehmen. Immerhin glauben heute bereits 71 Prozent, dass die Digitalisierung die Zusammenarbeit zwischen Management und Werker verändert. Dass die Digitalisierung auch die Zusammenarbeit der Menschen auf dem Shop Floor verändert, davon sind immerhin 68 Prozent überzeugt. Erstaunlich ist - und hier muss man wohl noch einiges an Überzeugungsarbeit leisten, dass nur 39 Prozent davon ausgehen, dass die Digitalisierung einen signifikanten Teil der Belegschaft überfordert.

Für das Unternehmen bedeutet es in jedem Fall, die Mitarbeiter auf dem Weg in die Digitalisierung mit Angeboten und Anreizen zu fördern, wo und wann immer es geht. Die Aufgabe: Im Unternehmen Kompetenzen aufzubauen. Und die Angst vor strukturellen Änderungen am Arbeitsplatz zu nehmen. Denn mit der Vernetzung des Wissens entsteht im besten Fall eine höhere Transparenz, die es den Mitarbeitern ermöglicht, Entscheidungen mit weniger Unsicherheiten zu treffen. Die Demokratisierung des Wissens bedeutet damit auch den Verlust von Macht. Konkret erleben wir die Änderung hierarchischer Strukturen hin zu flachen und flexiblen, selbst organisierten Teams und damit die Veränderung der Zusammenarbeit hin zu agilen Systemen.

Ich habe eine solche Diskussion kürzlich mit einem Meister in einem Fertigungsbetrieb geführt. Er sah mich entgeistert an und rechnete mir vor, was es in nicht produzierten Stückzahlen für das Unternehmen bedeute, wenn er jeden Mitarbeiter in den nächsten 36 Monaten auch nur eine Stunde pro Woche schulen müsse. Und was für ein persönlicher Aufwand es für ihn sei, sich mit Anfang 50 in Digitalisierungsthemen einarbeiten zu müssen - vorausgesetzt, sein Arbeitgeber unterstütze das überhaupt. Ich versuchte ihm zu erklären, dass die Bedeutung von persönlicher Erfahrung mit der Digitalisierung sinkt. Wissen wird leichter zugänglich. Dass seine Aufgabe zunehmend sein werde, Systeme zu entwickeln sowie Wissen und Informationen für alle verfügbar zu machen. Er fragte sich, welchen Vorteil er davon habe, wenn er diesen Weg gehe. Die Antwort ist für mich klar, er sichert seinen Job.


Marc Kräutle

Marc Kräutle is an international management consultant with strong experience in the discrete industry. He is one of two Managing Directors and owners of Agamus Consult and author of this blog. For more than 15 years he has been committing to operational excellence, supply chain & lean management and (digital) transformation.

He started his consulting career in Paris, gained his first international experience by working on projects abroad and took over interim leading positions as a line manager in the automotive industry in the 2000s. In 2008 he has joined Agamus Consult Germany and did launch the initiative: Forum for Digitized Industry (www.smart-applications.com) at the end of 2017.

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