„Das kannst du dem Weihnachtsmann erzählen“ ist dann solch ein Satz, bei dem man innehält und nachdenkt. - Im letzten Monat hat mich solch eine Situation auf dem Kongress Automotive Lean Production bei Mercedes in Bremen kalt erwischt: Wir von Agamus Consult, zusammen mit der Fachzeitschrift Automobil Produktion, untersuchen seit 2006 jährlich die Fortschritte und Trends der Automobil-Branche. Im November 2018 steht dann mein geschätzter Kollege Dirk Laforet auf der Bühne und berichtet von der Einführungsrede eines neuen CEO, der sagte: „Lean machen wir erst mal nicht mehr.“ Dieser Aussage folgte ein brandender Applaus der Belegschaft. Und ein zweites CEO-Zitat: „Wir haben keine Zeit mehr für Lean, die Kunden treiben uns vor sich her und wir müssen im Geschäft überleben.“
Lean ist also Schnee von gestern. Als Allheilmittel wird dann meist vom gleichen CEO die Digitalisierung gefeiert. Gerne schürt dabei die Angst vor den Wirtschaftsmächten aus Fernost mit Statements wie: „Wer schnell sein will, muss die Chancen der Digitalisierung nutzen. Schauen Sie sich mal die Chinesen an, die überrennen uns.“
Dirk wollte selbstverständlich nur provozieren. Aber Statements wie die obigen höre ich allerdings immer wieder bei Fach- und Führungskräften. Und das macht mich nachdenklich. Wie entgegnet man solchen Behauptungen? Nun, Lean ist zunächst einmal die Vorstellung eines ganzheitlichen Prozesses, der sich von der Strategie über die Operationalisierung und den Arbeitsprozess bis hin zur Kundenerwartung durch alle Teile des Unternehmens zieht. Zu den wesentlichen Zielen gehören die größtmögliche Kundenzufriedenheit und die kleinstmögliche Verschwendung. Lean ist damit ein ökonomisch ausgerichtetes Gegenkonzept zu der alten puffernden Produktionsweise mit aufwändiger Lagerhaltung, wie er in den 50er/60er/70er und 80er Jahren in der westlichen Welt vorherrschte.
Dagegen nun die Digitalisierung. Diesen Ansatz gab es in Anfängen in den 70er und 80er Jahren ebenfalls – unter dem Namen Computer Integrated Manufacturing (CIM). Ein aktueller Artikel von Prof. Volker Ahrens zeigt für mich sehr schön, was hier gelegentlich verhandelt wird:
„Tatsächlich stehen Lean Production und CIM bzw. Industrie 4.0 für geradezu gegensätzliche Konzepte: Lean Production folgt ebenso wie ursprünglich das Scientific Management, daran anschließend Industrial Engineering und insofern auch die REFA-Methodenlehre, dem ökonomischen Imperativ, der auf die Optimierung des Verhältnisses zwischen eingesetzten Mitteln und angestrebtem Nutzen zielt. CIM, die digitale Fabrik und nunmehr Industrie 4.0 folgen dagegen dem technologischen Imperativ, nach dem aus dem Können das Sollen folgt. Was technologisch möglich erscheint, soll realisiert werden – aus ökonomischer Sicht könnte man kritisch hinzufügen: koste es, was es wolle.“ (S. 4)
Ahrens kommt zu dem Schluss: „Vielmehr gilt es auch zukünftig, für jede Investition in Technologie eine nüchterne Investitionsrechnung anzustellen und nur das zu automatisieren, was sich rechnet. In dieser Hinsicht behält der ökonomische Imperativ seinen Vorrang vor dem technologischen Imperativ.“ (S. 4/5)
Das ist sicher richtig – aber eben nur zum Teil. Was hier fehlt, ist das Denken auf der Prozess-Ebene. Auch Digitalisierung bedeutet für Unternehmer und Unternehmen in den meisten Fällen wohl ein Nachdenken über zu optimierende Strukturen, über verbesserte – weil automatisierte – Prozesse, mit denen Fehlerquellen eliminiert und Prozesse beschleunigt werden, mit denen durch Datenauswertung ein Zusatznutzen generiert und die Transparenz erhöht werden kann.
Wer zu Hause Smart Home einführt und sich daran freut, dass man nun auch im Wohnzimmer sehen kann, wie hoch die Vorlauftemperatur der Fußbodenheizung ist oder dass man mit Alexa Musik und Beleuchtung steuern kann, digitalisiert meist wohl einfach, weil es machbar ist. Wer dagegen Daten zum Heizverhalten auswertet und damit eine verbesserte Energiesteuerung generiert, indem die kontrollierte Wohnraumlüftung ebenso wie die Nachtabschaltung der Heizung und die nach dem Nutzungsverhalten angepasste Brauchwasseraufheizung bedarfsgerecht aufeinander abgestimmt und optimiert werden, sucht zunächst einmal einen ökonomischen Vorteil, indem Verschwendung reduziert und der Kundennutzen (=geringere Kosten) erhöht werden. Hier kann eine digitalisierte Steuerung im zweiten Schritt helfen, den Heizprozess weiter zu vereinfachen und zu optimieren, etwa indem Verbrauchsdaten gesammelt, mit weiteren Daten wie etwa der Außentemperatur gekoppelt und z.B. über eine App aufbereitet werden. Der Effekt wird in aller Regel eine weitere Prozessverbesserung sein.
Die Praxis zeigt: In komplexen Situationen funktioniert der Übergang von analog zu digital nur dann, wenn die Strukturen selbst bereits optimiert sind. Digitalisierung im unternehmerischen Umfeld ist also überall dort sinnvoll, wo Strukturen bereits optimiert wurden. Hier bieten dann Ansätze der Digitalisierung viele weitere Möglichkeiten.
Dirk lieferte ein spannendes Ergebnis aus der Automotive Lean Production Studie 2018: Wer sich intensiv um Lean Management und Lean Production bemüht, wer also zu den High Lean Performern gehört, profitiert ökonomisch besonders stark von der Digitalisierung. So liegt der Anteil der Digitalisierungsprojekte, die zur Freigabe mit einem ROI bewertet wurden, bei den High Lean Performern bei 70 Prozent. Bei den Low Lean Performern sind es gerade mal 25 Prozent.
Wer also seine Prozesse im Griff hat, Verschwendung reduziert, den Kundennutzen nach vorne stellt und insgesamt schlank aufgestellt ist, der profitiert nicht nur von den Lean-Effekten. Wer so vorgeht, ist auch auf den Turbo 'Digitalisierung' gut vorbereitet. Dass Digitalisierung alleine ein Allheilmittel ist und auf Knopfdruck unternehmerische Probleme löst, das ist die Geschichte, die man getrost dem Weihnachtsmann erzählen kann.
Manchmal fühlt man sich als Berater wie ein alter Mann mit langem weißen Bart.
„Das kannst du dem Weihnachtsmann erzählen“ ist dann solch ein Satz, bei dem man innehält und nachdenkt. - Im letzten Monat hat mich solch eine Situation auf dem Kongress Automotive Lean Production bei Mercedes in Bremen kalt erwischt: Wir von Agamus Consult, zusammen mit der Fachzeitschrift Automobil Produktion, untersuchen seit 2006 jährlich die Fortschritte und Trends der Automobil-Branche. Im November 2018 steht dann mein geschätzter Kollege Dirk Laforet auf der Bühne und berichtet von der Einführungsrede eines neuen CEO, der sagte: „Lean machen wir erst mal nicht mehr.“ Dieser Aussage folgte ein brandender Applaus der Belegschaft. Und ein zweites CEO-Zitat: „Wir haben keine Zeit mehr für Lean, die Kunden treiben uns vor sich her und wir müssen im Geschäft überleben.“
Lean ist also Schnee von gestern. Als Allheilmittel wird dann meist vom gleichen CEO die Digitalisierung gefeiert. Gerne schürt dabei die Angst vor den Wirtschaftsmächten aus Fernost mit Statements wie: „Wer schnell sein will, muss die Chancen der Digitalisierung nutzen. Schauen Sie sich mal die Chinesen an, die überrennen uns.“
Dirk wollte selbstverständlich nur provozieren. Aber Statements wie die obigen höre ich allerdings immer wieder bei Fach- und Führungskräften. Und das macht mich nachdenklich. Wie entgegnet man solchen Behauptungen? Nun, Lean ist zunächst einmal die Vorstellung eines ganzheitlichen Prozesses, der sich von der Strategie über die Operationalisierung und den Arbeitsprozess bis hin zur Kundenerwartung durch alle Teile des Unternehmens zieht. Zu den wesentlichen Zielen gehören die größtmögliche Kundenzufriedenheit und die kleinstmögliche Verschwendung. Lean ist damit ein ökonomisch ausgerichtetes Gegenkonzept zu der alten puffernden Produktionsweise mit aufwändiger Lagerhaltung, wie er in den 50er/60er/70er und 80er Jahren in der westlichen Welt vorherrschte.
Dagegen nun die Digitalisierung. Diesen Ansatz gab es in Anfängen in den 70er und 80er Jahren ebenfalls – unter dem Namen Computer Integrated Manufacturing (CIM). Ein aktueller Artikel von Prof. Volker Ahrens zeigt für mich sehr schön, was hier gelegentlich verhandelt wird:
„Tatsächlich stehen Lean Production und CIM bzw. Industrie 4.0 für geradezu gegensätzliche Konzepte: Lean Production folgt ebenso wie ursprünglich das Scientific Management, daran anschließend Industrial Engineering und insofern auch die REFA-Methodenlehre, dem ökonomischen Imperativ, der auf die Optimierung des Verhältnisses zwischen eingesetzten Mitteln und angestrebtem Nutzen zielt. CIM, die digitale Fabrik und nunmehr Industrie 4.0 folgen dagegen dem technologischen Imperativ, nach dem aus dem Können das Sollen folgt. Was technologisch möglich erscheint, soll realisiert werden – aus ökonomischer Sicht könnte man kritisch hinzufügen: koste es, was es wolle.“ (S. 4)
Ahrens kommt zu dem Schluss: „Vielmehr gilt es auch zukünftig, für jede Investition in Technologie eine nüchterne Investitionsrechnung anzustellen und nur das zu automatisieren, was sich rechnet. In dieser Hinsicht behält der ökonomische Imperativ seinen Vorrang vor dem technologischen Imperativ.“ (S. 4/5)
Das ist sicher richtig – aber eben nur zum Teil. Was hier fehlt, ist das Denken auf der Prozess-Ebene. Auch Digitalisierung bedeutet für Unternehmer und Unternehmen in den meisten Fällen wohl ein Nachdenken über zu optimierende Strukturen, über verbesserte – weil automatisierte – Prozesse, mit denen Fehlerquellen eliminiert und Prozesse beschleunigt werden, mit denen durch Datenauswertung ein Zusatznutzen generiert und die Transparenz erhöht werden kann.
Wer zu Hause Smart Home einführt und sich daran freut, dass man nun auch im Wohnzimmer sehen kann, wie hoch die Vorlauftemperatur der Fußbodenheizung ist oder dass man mit Alexa Musik und Beleuchtung steuern kann, digitalisiert meist wohl einfach, weil es machbar ist. Wer dagegen Daten zum Heizverhalten auswertet und damit eine verbesserte Energiesteuerung generiert, indem die kontrollierte Wohnraumlüftung ebenso wie die Nachtabschaltung der Heizung und die nach dem Nutzungsverhalten angepasste Brauchwasseraufheizung bedarfsgerecht aufeinander abgestimmt und optimiert werden, sucht zunächst einmal einen ökonomischen Vorteil, indem Verschwendung reduziert und der Kundennutzen (=geringere Kosten) erhöht werden. Hier kann eine digitalisierte Steuerung im zweiten Schritt helfen, den Heizprozess weiter zu vereinfachen und zu optimieren, etwa indem Verbrauchsdaten gesammelt, mit weiteren Daten wie etwa der Außentemperatur gekoppelt und z.B. über eine App aufbereitet werden. Der Effekt wird in aller Regel eine weitere Prozessverbesserung sein.
Die Praxis zeigt: In komplexen Situationen funktioniert der Übergang von analog zu digital nur dann, wenn die Strukturen selbst bereits optimiert sind. Digitalisierung im unternehmerischen Umfeld ist also überall dort sinnvoll, wo Strukturen bereits optimiert wurden. Hier bieten dann Ansätze der Digitalisierung viele weitere Möglichkeiten.
Dirk lieferte ein spannendes Ergebnis aus der Automotive Lean Production Studie 2018: Wer sich intensiv um Lean Management und Lean Production bemüht, wer also zu den High Lean Performern gehört, profitiert ökonomisch besonders stark von der Digitalisierung. So liegt der Anteil der Digitalisierungsprojekte, die zur Freigabe mit einem ROI bewertet wurden, bei den High Lean Performern bei 70 Prozent. Bei den Low Lean Performern sind es gerade mal 25 Prozent.
Wer also seine Prozesse im Griff hat, Verschwendung reduziert, den Kundennutzen nach vorne stellt und insgesamt schlank aufgestellt ist, der profitiert nicht nur von den Lean-Effekten. Wer so vorgeht, ist auch auf den Turbo 'Digitalisierung' gut vorbereitet. Dass Digitalisierung alleine ein Allheilmittel ist und auf Knopfdruck unternehmerische Probleme löst, das ist die Geschichte, die man getrost dem Weihnachtsmann erzählen kann.
Marc Kräutle
Marc Kräutle is an international management consultant with strong experience in the discrete industry. He is one of two Managing Directors and owners of Agamus Consult and author of this blog. For more than 15 years he has been committing to operational excellence, supply chain & lean management and (digital) transformation.
He started his consulting career in Paris, gained his first international experience by working on projects abroad and took over interim leading positions as a line manager in the automotive industry in the 2000s. In 2008 he has joined Agamus Consult Germany and did launch the initiative: Forum for Digitized Industry (www.smart-applications.com) at the end of 2017.